Lehrstuhl
Theorie und Beratung
Der Lehrstuhl versteht sich explizit sowohl der wissenschaftlichen Analyse als auch der Gestaltungsaufgabe verpflichtet, die mit Wirtschaftspolitik im weitesten Sinne verbunden ist. Die Lehrstuhlmitglieder haben ein Interesse daran, wirtschaftswissenschaftliche Expertise verstärkt in den Gestaltungsprozess einzubringen. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftspolitische Gestaltungen im Sinne von kollektiven Entscheidungen, sondern auch um das Entscheidungsverhalten einzelner Menschen und um die Gestaltung von Gruppenentscheidungen. Diesem Anliegen wird dadurch Ausdruck verliehen, dass der Lehrstuhl zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen öffentlich Stellung bezieht und an der Entwicklung von Instrumenten zur Entscheidungsunterstützung arbeitet.
Bei der Wahl des Forschungsgegenstands wird der Bezug zu wirtschaftspolitischen Anwendungen häufig berücksichtigt. Das schließt die Beschäftigung mit ausgesprochenen Grundlagenfragestellungen allerdings ebensowenig aus wie beispielsweise die Beschäftigung mit Entscheidungsprozessen, die in Unternehmen eine wichtige Rolle spielen.
Drei Säulen
Die am Lehrstuhl geleistete Arbeit steht gewissermaßen auf drei Säulen.
Die Theorie liefert die Grundlage für das Verständnis realer Phänomene,
die Politik beschreibt den Versuch, Realität durch kollektive Entscheidungen auf
der Grundlage theoretisch geschulter Intuition zu gestalten und
das Experiment ist das verbindende Element zwischen Theorie und Praxis (Politik).
Theoretische Überlegungen gehen in unterschiedlicher Weise in die Forschungsarbeit und die vom Lehrstuhl geleistete Beratung ein. Zentral ist dabei die Verbindung von normativer Theorie und verhaltensökonomischen Ansätzen. Unter normativer Theorie werden dabei im Wesentlichen theoretische Zugänge verstanden, die vom Rationalmodell ausgehen, d.h. die menschliche Entscheidungen als das Ergebnis eines rationalen, optimierenden Kalküls ausweisen. Diese Art der Modellierung liefert die Orientierungspunkte bei der Konstruktion von Gestaltungsvorschlägen. Nur, wenn bekannt ist, wie eine strikt rationale Lösung aussehen würde, lassen sich real existierende Abweichungen von diesem Benchmark sicher identifizieren. Das gilt sowohl für die wirtschaftspolitische Analyse und Beratung, als auch für die Auseinandersetzung mit Entscheidungsprozessen auf individueller und Gruppenebene. Die theoretischen Grundlagen speisen sich aus verschiedenen Quellen:
Die Allokationstheorie bildet zusammen mit der neoklassischen Wohlfahrtstheorie die Grundlage für den größten Teil der wirtschaftspolitischen Analyse und der daraus abzuleitenden wirtschaftswissenschaftlichen Beratung. Hintergrund für das Bemühen um eine allokationstheoretische Fundierung politischer Analysen und Empfehlungen ist die Überzeugung, dass es Aufgabe der ökonomischen Wissenschaft ist, Beiträge zur Lösung des gesellschaftlichen Effizienzproblems zu leisten. Auf diesem Gebiet liegt der komparative Vorteil der Ökonomen. Diesen können sie aber nur nutzen, wenn sie sich tatsächlich der vorhandenen allokationstheoretischen Grundlagen bedienen. Dabei liefert die Allokationstheorie den theoretischen Bezugsrahmen, der es erlaubt, die Defizite realer Allokationssysteme offen zu legen. Eine verhaltensökonomisch motivierte Analyse dieser Defizite steht dabei nicht im Widerspruch zu dem grundlegenden allokationstheoretischen Zugang.
Die Spieltheorie ist ein ausgesprochen mächtiges Instrument um strategische Interaktionen abzubilden und zu analysieren. Ökonomische Interaktionen haben sehr häufig den Charakter strategischer Interaktionen, die nur verstehbar sind, wenn man sich des analytischen Instrumentariums der Spieltheorie bedient. Zugleich bildet die Spieltheorie die Ausgangsbasis für das Verständnis der experimentellen Forschung. Sie liegt damit gewissermaßen auf der Schnittstelle zwischen der normativen Theorie und der Verhaltensökonomik. So lässt sie Veränderungen der Präferenzannahmen zu, ohne dabei das Postulat der strikten Rationalität aufzugeben.
Die Entscheidungstheorie ist der, die Spieltheorie einschließende, Rahmen der normativen Theorie. Ganz allgemein zeigt die Entscheidungstheorie mit welchen Methoden sich rationale Entscheidungen herbeiführen lassen. Sie liefert damit zugleich ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe sich Fehler, die durch eingeschränkt rationales Entscheiden systematisch entstehen können, verhindern lassen.
Die Verhaltensökonomik ist der Versuch, allgemeingültige Sätze über menschliches (Entscheidungs-) Verhalten abzuleiten, ohne dabei axiomatisch vorzugehen und die Rationalität der Entscheider vorauszusetzen. Vielmehr wird in der Verhaltensökonomik der Versuch unternommen, das menschliche Verhalten auf die Grundlage empirischer, häufig experimentell gewonnener Evidenzen zu erklären. Sie ist dabei nicht als ein Alternative zur normativen Theorie zu verstehen, sondern als ein komplementärer Zugang, der nur im Zusammenwirken mit der normativen Theorie seine volle Wirkung entfalten kann.
Die Wirtschaftswissenschaft ist letztlich eine empirische Disziplin, deren Aufgabe darin besteht, Erklärungen für reale Phänomene zu liefern. Aber ihr Auftrag geht darüber hinaus. Sie ist auch aufgerufen, konstruktive Beiträge bei der Gestaltung von Realität zu leisten. An dieser Stelle betritt die Wirtschaftspolitik als wissenschaftliche Disziplin die Bühne. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie sich explizit der theoretischen Grundlagen bedient, die die Allokations- und die Spieltheorie liefern. Eine moderne wirtschaftspolitische Beratung bedient sich darüber hinaus aber auch verhaltensökonomischer Erkenntnisse. Es wäre nicht zur rechtfertigen, wenn der wirtschaftspolitische Berater die Tatsache, dass es überzeugende empirische Evidenz dafür gibt, dass Menschen zu bestimmten Mustern eingeschränkt rationalen Handelns neigen, ignorieren würde. Vielmehr gilt es, die Möglichkeit, dass solchermaßen beschränkt rationales Handeln zu allokativen Fehlentwicklungen führt, mit zu bedenken. Allerdings geschieht dies in der Arbeit des Lehrstuhls in einer gewissermaßen „aufgeklärten“ Weise. Einerseits durch ein klares Bekenntnis zu einer nicht paternalistischen Politik (was einen sanften Paternalismus nicht ausschließt), und andererseits dadurch, dass Theorie nicht verstanden wird als ein unmittelbar anwendbares Werkzeug. Vielmehr soll wirtschaftswissenschaftliche Theorie vor allem helfen, eine fundierte Intuition zu entwickeln. Sie schult uns, grundlegende Strukturen zu erkennen und Ordnung in die vielfältigen Wirkungszusammenhänge und Interdependenzen zu bringen. Darüber hinaus muss sich wirtschaftspolitische Beratung immer auch der Limitationen ökonomischer Theorien bewusst sein. Eine der wichtigsten besteht darin, dass Allokationstheorie Verteilungsfragen weitgehend ignoriert. Verteilungsfragen aber sind der Schlüssel zum Verständnis realer politischer Vorgänge. Das bedingt auch, dass der Bezug zur Effizienzfrage nicht dogmatisiert werden darf.
Die experimentelle Methode ist ausgezeichnet dazu geeignet, einen wichtigen und belastbaren Bezug herzustellen zwischen der Theorie, dem Menschen als handelndes und entscheidendes Wesen und der wirtschaftspolitischen Realität. Das Experiment ist deshalb dafür besonders geeignet, weil es in der Lage ist, abstrakte Theorie direkt abzubilden, um sie auf diese Weise der Realität zumindest näher zu bringen, als es durch reine Schreibtischforschung möglich wäre. Die experimentelle Forschung wird am Lehrstuhl einerseits als notwendige Grundlagenforschung angesehen, die intensiv im MaXLab betrieben wird. Gleichzeitig wird aber auch immer der Versuch unternommen, experimentelle Methoden dafür zu verwenden, Aufschluss über verhaltensökonomische Grundlagen für wirtschaftspolitische Gestaltungen zu erlangen. Die sei an drei praktischen Beispielen verdeutlicht:
1. Fochmann, Sachs, Sadrieh und Weimann (2017) untersuchen die verhaltensökonomischen Grundlagen der Staatsverschuldung. Warum beobachten wir, dass Menschen auf breiter Front bereit sind, Parteien zu wählen, die sich für eine Ausweitung der Staatsverschuldung aussprechen? Welche Motive, oder welches eingeschränkt rationale Kalkül steckt dahinter? Die experimentelle Forschung zeigt, dass die im Labor gezeigten Verhaltensmuster am besten durch die Annahme strikt rationalen, eigennützigen Verhaltens erklärt werden können. Es kommt zur Verschuldung, weil die Versuchspersonen die Möglichkeit nutzen, die Kosten des eigenen Konsums auf nachfolgende Generationen abzuwälzen.
2. Was genau steuert das Kooperationsverhalten in großen Gruppen? Seit Olsons "Logik des kollektiven Handelns" geht man davon aus, dass große Gruppen nicht in der Lage sind, kollektive Interessen gut durchzusetzen. Der Grund ist, dass bei großen Gruppen der Einfluss, den das einzelne Mitglied auf die Produktion des Kollektivgutes hat, verschwindend gering werden kann und damit der Anreiz entfällt, die Kosten für den Beitrag zur Kollektivguterstellung zu tragen. Eine experimentelle Überprüfung dieser These war lange Zeit nicht möglich, weil man dazu große Gruppen braucht, die aus logistischen Gründen kaum für Laborversuche in Fage kamen. Weimann, Brosig-Koch, Heinrich, Henning-Schmidt und Keser (2017) lösen dieses Problem durch die virtuelle Zusammenlegung von vier Laboren. Sie können zeigen, dass sich die Theorie Olsons experimentell nicht bestätigen lässt. Außerdem zeigen sie, dass das Kooperationsverhalten großer Gruppen unter Umständen von der sogenannten MPCR-distance gesteuert wird, die als Proxi für die Salienz der wechselseitigen Vorteile aus Kooperation gesehen werden kann. Diese Ergebnisse haben erkennbar eine hohe Bedeutung für die praktische Politik im Hinblick auf die Lösung wichtiger öffentlicher Gut Probleme, wie der Klimapolitik oder der Stabilisierung demoktratischer Systeme.
3. Vor dem Hintergrund der Integration der Verhaltensökonomik in die wirtschaftspolitische Beratung kommt dem Nudging eine besondere Bedeutung zu. Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit sanft paternalistischen Eingriffen betrifft die Wirkung einer offenen Kommunikation der Motive für einen Nudge. Wirkt der auch dann noch, wenn die Politik offen kommuniziert, dass sie eine bestimmte Maßnahme ergriffen hat, um die Entscheidung von Menschen in eine bestimmte Richtung zu "schubsen"? Erika Gross ist in einem Experiment dieser Frage nachgegangen und konnte zeigen, dass sich die Kommunikation der Hintergründe und des Ziels von einem Nudge nicht negativ auf die Wirkung des Nudges auswirken.
Die drei Beispiel zeigen, dass experimentelle Grundlagenforschung sehr wohl ausgesprochen relevante und praktisch bedeutsame Probleme adressieren und behandeln kann.